„Wer nicht selbst betroffen ist kann sich nicht vorstellen, was Muskeldystropie bedeutet.“

Mein Name ist Sevilay (39 Jahre), und das ist meine Geschichte.
Geboren wurde ich an einem Mittwochmorgen um 02:13 Uhr in der Früh. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum ich eine Nachteule bin. Zuvor lag meine Mutter, die aus dem Osten der Türkei stammt, schon mehr als sechs Stunden in den Wehen.
Nachdem mich meine Mutter mit großer Mühe aus ihren Lenden herausgepresst hatte, kam ich frierend auf diese kalte Welt. Ich wuchs mit drei älteren Geschwistern auf, aber da meine Eltern, beziehungsweise meine Mutter, immer viel arbeiten musste, kümmerte sich hauptsächlich meine älteste Schwester um uns Kinder.

Mit einem Jahr wurde bei mir eine Muskeldystrophie diagnostiziert, dieselbe Grunderkrankung hatte auch meine zweitälteste Schwester. Diese Krankheit ist schon bei Geburt oder innerhalb weniger Monate nach der Geburt erkennbar. Symptome sind Hypotonie, also niedriger Blutdruck, und Schwäche der Muskulatur von Armen, Beinen und Rumpf. Auch können Atem- und Nahrungsaufnahmeprobleme hinzukommen. Betroffene Kleinkinder entwickeln früh eine Steifheit der Wirbelsäule mit Skoliose, also eine Verbiegung der Wirbelsäule, sowie Ateminsuffizienz.

Mit sieben Jahren wurde ich auf eine Schule für körperbehinderte Menschen eingeschult, die auch meine ältere Schwester besuchte. Sie brachte mir immer viel bei, und wir hatten immer eine Menge zu bereden, da wir die gleichen Probleme und Sorgen teilten.

Mit 17 Jahren beendete ich die Schule und erhielt die Möglichkeit, auf ein Berufsbildungswerk zu gehen. Dort besuchte ich zwei Jahre die Schule für Wirtschaft und Verwaltung. Anschließend begann ich eine Ausbildung als Bürokauffrau, die ich mit einem guten Abschluss absolvierte. Im Nachhinein waren das meine schönsten Jahre, denn ich lernte viele Menschen kennen, darunter auch meine beste Freundin Hülya, mit der ich auch bis heute sehr gut befreundet bin. Wir können über alles reden und sind Seelenverwandte.

Nach meiner Ausbildung bewarb ich mich bei vielen Unternehmen, allerdings tauchte immer das Problem auf, dass ich leider zu viel Unterstützung bräuchte, da ich aufgrund meiner Körperbehinderung fast nichts allein kann. Drei Jahre suchte ich vergeblich eine Arbeit, und es war nicht immer sehr leicht für mich, mit dieser Situation umzugehen. Ich besuchte in dieser Zeit sehr viele Fortbildungen und Weiterbildungsmaßnahmen in der Hoffnung, dass ich bei besserer Qualifikation eine Arbeit finden würde.
Jahre zogen ins Land, und ich hatte noch immer keine Arbeit. Eines Tages entschloss ich mich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Meine ältere Schwester, die auch an derselben Grunderkrankung litt, arbeitete dort schon 22 Jahre.

Ich sprach also mit dem zuständigen Arbeitsamt, das daraufhin alle Formalitäten regelte. Und drei Monate nach dem Antrag hatte ich meinen ersten Arbeitstag in der Werkstatt. Ich war sehr aufgeregt aber auch heilfroh, dass meine Schwester im gleichen Gebäude arbeitete wie ich. Sie unterstützte mich bei allen Gelegenheiten, und ich konnte ihr jede Frage stellen, die ich hatte.

2016 verstarb meine Schwester an den Folgen einer Operation, sie wachte nicht mehr auf. Ich war am Boden zerstört, mein Herz fühlte sich so an, als würde es jeden Tag zerreißen, und ich dachte, ich würde diese Zeit nicht überleben. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das stimmt nicht. Das Einzige, was passiert, ist, dass die Erinnerungen verblassen und man mit dem Schmerz umzugehen lernt. Nun ist es fünf Jahre her, dass sie verstorben ist, und ich rede noch jeden Tag mit ihr, so als wäre sie in meiner Nähe. Oft besuche ich ihr altes Büro und sortiere die Kugelschreiber, die auf dem Schreibtisch liegen.

2010 verstarb auch mein Vater an einer schweren Krankheit. Man glaubt, mit dem Schmerz umgehen zu können, da man ihn erlebt hat, aber dies ist nicht der Fall.
Aktuell lebe ich allein mit meiner Mutter zu Hause, ich werde sowohl vom Pflegedienst als auch von meiner Familie betreut. Als Mensch, der durchgehende Hilfe benötigt, ist Spontanität sehr schwierig umzusetzen. Beispielsweise ist es nicht möglich, am Wochenende auszuschlafen, da der Pflegedienst feste Vorgaben hat und spätestens nach 08:00 Uhr kommt. Natürlich ist es wichtig, dass es solche Menschen gibt, die einem diese Dienstleistung erbringen, aber dennoch ist es nicht immer schön. Wer nicht selbst betroffen ist, kann sich nicht vorstellen, was Muskeldystrophie bedeutet. Die alltäglichsten Dinge werden zu „Monster-Aktionen“. Dabei geht es nicht nur ums Aufstehen, Duschen oder Essen, nein, es sind oft die kleinen Dinge, die das Leben erschreckend peinlich machen. Ein Beispiel: Zähneputzen. Niemand putzt meine Zähne so wie ich –  die Intensität, die Putzrichtung, die Dauer, der Winkel der Zahnbürste zu den Zähnen. In allen Lebenslagen muss ich um Hilfe bitten. Ich gehe sehr gerne einkaufen, allerdings ist es sehr nervig, bei jeder Kleinigkeit jemanden um Hilfe zu bitten, wenn ich keine Begleitperson bei mir habe. Alles in meinem Leben muss genauestens geplant und organisiert werden, ein spontaner Tagesausflug, geschweige denn Urlaub, sind undenkbar. Aufgrund dessen bin ich sehr gut im Organisieren.
Zum Abschluss möchte ich nur noch hinzufügen, dass ich meine Familie über alles liebe. 2009 und 2019 wurde ich Tante. Meine Nichte und meinen Neffen liebe ich wie meine eigenen Kinder, sie bringen mich immer zum Lachen.

„Vergangenheit ist Geschichte, Zukunft ist Geheimnis, und jeder Augenblick ein Geschenk.“

Ina Deter (*1947), dt. Liedermacherin

Sevilay G.

Sevilay berichtet aus ihrem Leben in einer großen Familie, in der sie und ihre Schwester an Muskeldystrophie leiden, und von der Tragödie, ihre Schwester zu verlieren.