Interview mit Hülya Marquardt in der Textversion

Liebe Hülya, ich freue mich sehr, dass sich unsere Wege gekreuzt haben und wir deshalb heute zusammen hier sein können. Wir haben uns ja schon öfter ausgetauscht, aber bitte stelle dich doch kurz vor.

Hülya: Ich bin die Hülya Marquardt, bin 37 Jahre alt und komme ursprünglich aus Hagen. Das ist in der Nähe von Dortmund, also in Nordrhein-Westfalen. Gerade bin ich in Elternzeit, ich habe nämlich einen Sohn bekommen vor zehn Monaten. Ich bin angestellt bei der Handwerkskammer in Stuttgart als Seminar-Managerin, und nebenbei betreibe ich noch mit meiner Schwiegermutter eine Modeboutique.

Du bist also in Deutschland geboren und aufgewachsen, die Wurzeln deiner Familie liegen in der Türkei. Wie sind deine Familie und Verwandtschaft während deiner Kindheit mit deiner Erkrankung umgegangen?

Hülya: Als ich zur Welt gekommen bin, war das erstmal ein Schock für meine Familie aufgrund dieser Behinderung, die ich habe, die ja genetisch bedingt ist, und es war dann halt so eine Unsicherheit da. Auch für meine Mutter. Sie war erst 16 Jahre alt, als sie geheiratet hat, und mit 17 hat sie mich bekommen – man muss kurz dazu sagen: Sie ist aus der Türkei gekommen, und sie konnte die deutsche Sprache nicht. Dann hat sie ein Kind bekommen, das nicht gesund war. Und das war eine totale Herausforderung für sie.

Ein Schock sagst du. Wie war das dann mit deiner Mutter und dir? Was für Erinnerungen hast du an die frühe Kindheit?

Hülya: Meine Mutter hat sehr viele Ängste gehabt. Ängste, wie zum Beispiel auch, das hat sie mir nach Jahren gesagt:
Wird Hülya irgendwann einmal selbstständig sein können?
Wird sie zurechtkommen können?
Wird sie ihre Behinderung akzeptieren?
Wie werden andere Menschen auf sie reagieren?
Wird sie jemals eine Familie gründen?
Das waren alles so Sachen, die sie beschäftigt haben. Und ich kann mich auch daran erinnern, dass ich sehr lange im Krankenhaus war. Also mit sechs noch sehr intensiv. Da weiß ich auch noch, dass ich sechs Monate später eingeschult wurde. Im Krankenhaus war es aber so, dass ich da sehr schnell auch die deutsche Sprache gelernt habe. Also ich konnte sehr gut türkisch damals, aber dadurch, dass ich sehr viel im Krankenhaus war, habe ich auch sehr gut Deutsch gesprochen.

ich habe sehr schöne Erinnerungen an liebevolle Krankenschwestern, an Ärzte. Das war für mich eine ganz, ganz besondere Zeit.

Hülya Marquardt

Und wie ging es dann in der Schule weiter?

Hülya: Ich bin auf eine ganz normale Grundschule gegangen, also mit Menschen ohne Behinderung, und ich war die einzige mit so einer Behinderung – ah, doch, es gab noch eine Person, die im Rollstuhl saß. Aber bei mir war es so offensichtlich. „Irgendwas stimmt mit ihr nicht“, so. Und ich war auch die einzige in der Klasse mit Migrationshintergrund. Ich habe sowohl positive als auch negative Erfahrungen gemacht. Also, ich bin schon aufgefallen, das stimmt. Ich habe viele Freunde gehabt. Aber es gab auch welche, die so ein bisschen distanziert waren und so ein bisschen verunsichert … Keine Ahnung, wie man das bezeichnet. Aber in meiner Klasse waren das alles ganz, ganz tolle Menschen. Und ich habe auch ganz, ganz tolle Lehrer gehabt.

Du bist die Schirmherrin unseres Projekts „Lebende Tagebücher“ geworden. Das freut uns natürlich sehr, aber jetzt wollen wir von dir wissen: Warum hast du dich dazu entschieden, diese Position einzunehmen?

Hülya: Als du mich angerufen hast und wir das tolle Gespräch miteinander hatten, habe ich gemerkt, wie begeistert du bist. Und da habe ich mich auch gleich mitreißen lassen. Weil du ja auch gleich gesagt hast, um was es geht: Da geht es ja um Menschen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund und mit Fluchterfahrung. Und da habe ich gedacht: Wow! Das gibt’s so? Das gibt es ja so noch gar nicht, irgendwie. Das ist ein wichtiges Thema. Weil ich ja natürlich auch Migrantin bin und eine Behinderung habe. Und auch das mit der Fluchterfahrung fand ich eine klasse Idee, dass ihr das mit reingenommen habt! Und da habe ich so gedacht: Ich glaube, da kann man echt viel bewegen. Um da auch die Leute zu sensibilisieren, wirklich ins Gespräch zu kommen, um sich miteinander auszutauschen. Weil ich weiß, dass es nicht jeder Person gut geht. Also, nicht jedem geht es jetzt gerade so wie vielleicht mir. Das ist auch mit ein Grund, weshalb ich zu deinem Projekt „ja“ gesagt habe; weil ich weiß, dass es schon auch ein bisschen Unterschiede gibt, auch kulturell bedingt. Meine Eltern sind beide türkisch, also mein Vater und meine Mutter.

Ich komme aus diesem Kulturkreis, und ich weiß, dass es gewisse Unterschiede halt gibt. Es gibt super Sachen, sehr positive, wie eben auch Sachen, bei denen man einfach denkt: Das könnte man vielleicht auch ein bisschen anders sehen. Dass es viel Aufklärung geben muss. Dass ich aus meiner Situation heraus das Beste gemacht habe. Dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin, dass ich die Freiheit habe – mir selber genommen habe, mich selber entschieden habe für mein Leben. Und dass es leider aber Familien gibt, wo es nicht so ist.

Wo es dann heißt:
– „die arme oder der arme Behinderte“,
– „wir wollen es nicht zeigen“,
– „am Besten schweigen wir und zeigen gar nicht, dass wir ein behindertes Kind haben“.

Ich sage nicht, dass es generell so ist, aber das ist oft so. Und deswegen wäre es mir auch sehr, sehr wichtig, dass wir da vielleicht einfach anders rangehen an die Sache. Dass wir da gewisse Denkweisen verändern können, vielleicht, dass wir uns mehr öffnen, dass diese Menschen durchaus, dass wir alle in dieser Gesellschaft sein dürfen und uns unbedingt mit einbringen müssen, müssen – finde ich. Und dass es egal ist, welche Behinderung, welche Kultur, welche Religion etc. Für mich hat das alles noch nie eine Rolle gespielt. Aber ich glaube, indem wir mehr voneinander erzählen, uns mehr aufeinander einlassen und mehr miteinander reden, können sich gewisse Sachen verändern und gewisse Ängste verändern. Damit auch gerade die Mütter, die vielleicht allein mit diesem Problem gelassen werden, sich wirklich dem öffnen und sagen:
„Ja, ich habe ein Kind, das vielleicht nicht ganz gesund ist.“ Und deshalb finde ich es eben auch so wichtig an der Stelle, dass ich bei euerm Projekt dabei bin. Dass wir das zusammen gestalten einfach.

Was bedeuten die Lebenden Tagebücher für dich, was macht sie besonders und worum geht es?

Hülya: Bei den „Lebenden Tagebüchern“ haben wir die Möglichkeit uns zu öffnen, uns zu zeigen. Uns aber auch auszutauschen und zu erfahren, dass ich nicht alleine bin damit. Also dass es durchaus auch andere Menschen gibt. Dass wir einfach über meine Geschichte reden. Weil es ist total wichtig, auch das zu erfahren:
Wie geht es eigentlich den anderen damit? Was haben die für Erfahrungen gemacht?
Es ist aber auch wichtig, dass ich, Hülya, die ihre Geschichte hat, das auch anderen bewusst mache. Dass das alles möglich ist, dass wir das alle können. Dass wir es aber nur wollen müssen. Dass wir es vielleicht auch einfach wagen, gewisse Sachen auszusprechen. Uns zu zeigen vor allem – ganz wichtig! – uns nicht zu verstecken. Gab es in Deutschland früher auch, dass die Menschen sich versteckt haben und nicht gezeigt haben mit ihrer Behinderung.
Wie auch immer, aber die Zeiten sind zum Glück vorbei! Wir dürfen uns jetzt einfach zeigen, es gibt dieses Social Media. Wir dürfen uns einfach zeigen, mit allem, wie wir sind.

Die sind schon auch etwas provokant manchmal, diese Insta-Bilder oder so. Schon manchmal eine Provokation, also so, dass ich die Beine danebenlege oder so. Da würden die Leute sagen:
„Um Himmels willen, wie kann man so ein Bild machen!“ Aber ich glaube, das braucht es auch. Weil so kann sich das wahrscheinlich verändern und normalisieren. Indem wir uns mehr zeigen. Zeigen, dass es gut ist, so wie ich bin, und dass ich nicht jemand anderes sein möchte.

Ich sage „Ja“ zum Leben. Nicht rumwühlen in der Vergangenheit, was alles schiefgelaufen ist.

Hülya Marquardt


Ja, es ist einiges schiefgelaufen, aber es bringt mich jetzt nicht voran, also muss ich halt gucken, dass ich …, dass ich das, was ich habe, einbringe in die Gesellschaft. Dass ich mich für andere öffne, neugierig bin. Es aber auch zulasse, dass ich gewisse Ängste habe, dass ich auch …, dass ich auch gewisse Erfahrungen in meinem Leben gemacht habe, die vielleicht nicht so schön waren. Nur wenn wir darüber reden, glaube ich, dass sich das vielleicht mal verändert. Und ich glaube, dass die Menschen da auch nochmal eine andere Sichtweise bekommen.

Bist du auch sonst ehrenamtlich aktiv?

Hülya: Ich habe damals im Internat ehrenamtlich einiges gemacht, aber das als Schirmherrin ist für mich jetzt auch das allererste Mal. Und, ja, ich finde es auch total spannend. Und freue mich natürlich auch, dass dann hoffentlich ganz, ganz viele Leute mitmachen und einfach ihre Geschichte mit uns teilen.

Dann also wieder zu deiner Geschichte. Du hast von den Krankenhausaufenthalten berichtet. Schon mit zwei Monaten wurdest du zum ersten Mal operiert, viele weitere Eingriffe folgten. Kannst du uns näher beschreiben, woran du erkrankt bist?

Hülya: Ich weiß, dass es um die 20 OPs waren vom zweiten Lebensjahr bis zum sechsten Lebensjahr. Also irgendwas über 20. Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber es war schon … Ich habe schon eine richtig dicke Akte.
Also Dysmelie ist diese angeborene Fehlbildung. Das, was man ja auch an den Händen sehr gut sieht. Da habe ich mich nie operieren lassen. Die sind so, ich bin so zur Welt gekommen. Und man muss sich das so verstellen, dass ich das auch an den Unterschenkeln … also, dass die Unterschenkel so … ja, nicht normal ausgeprägt waren, sage ich immer.
Die Knochen waren halt nicht so funktionstüchtig. Also sie waren sehr brüchig.

Dann die Schulzeit. Du hast von tollen Lehrern und einer tollen Klasse geschwärmt. Bist du mit deiner Familie immer in Hagen geblieben und dort zur Schule gegangen?

Hülya: Also ich habe die Urlaube geliebt in der Türkei. Wegen meiner Oma, meinem Opa, meinen Tanten. Das war einfach eine wunderschöne Zeit. Und es war so eine intensive Zeit.
Und das war dann so, dass ich dasaß und, kurz bevor wir dann eigentlich wieder nach Deutschland zurücksollten, habe ich mich entschieden nicht mehr zurückzukommen.
Ich habe meiner Mutter und meinem Vater gesagt:
„Ich möchte gerne hierbleiben.“
Und dann haben meine Eltern gesagt:
„Gut, dann informieren wir uns, was es da für eine Schule gibt.“
Die Schule sollte in Ankara sein, und es wurde eine Privatschule im Mädcheninternat. Und da bin ich dann hingekommen. Ich hatte schon Heimweh. Es war so: Wenn ich da war, habe ich es hier vermisst, und wenn ich hier war, habe ich es auch da wieder vermisst. Ich habe an die Türkei sehr, sehr schöne Erinnerungen.

Und warum bist du nach Deutschland zurückgekommen?

Hülya: Letztendlich, warum ich nach einem Jahr zurückgekommen bin: Das war einfach nicht so für mich ausreichend. Es war einfach … nach einer Zeit wurde es schwieriger mit …, mit dem Laufen wurde es schwieriger.
Dann habe ich es dort versucht, aber es hat einfach … es ist dann irgendwann …, ja, es ist dann gescheitert, und ich habe dann entschieden nach einem Jahr wieder zurückzukommen.

Jetzt will ich auf dein 18. Lebensjahr kommen. Man wird volljährig, macht in der Regel seinen Führerschein und startet in das Erwachsenenleben. Wie war das bei dir? Was ist deine Erinnerung an diese Zeit in deinem Leben?

Hülya: Ich wusste als Kind, dass, wenn ich 18 bin, dass ich dann nochmal neu ins Krankenhaus gehen sollte. Dass dann nochmal neu entschieden wird, was gemacht wird.
Und ich bin dann auch mit 18 ins Krankenhaus, habe mich mit den Ärzten unterhalten, und die haben mich dann auch nochmal untersucht und gesagt …, also, sie hätten gewartet, bis ich jetzt sozusagen erwachsener bin. Also ausgewachsen bin. Und die haben gesagt, dass das rechte Bein, das war auch nicht so richtig funktionsfähig, dass es besser wäre, das rechte Bein zu amputieren. Und ich habe dann überlegt und habe gesagt:
„Okay, das macht schon Sinn, das Rechte, weil das hat keine Funktion. Aber das Linke habe ich ja immer noch“, war dann so mein Gedanke. Also, das ist jetzt das letzte Mal: Noch so eine OP und dann kommt auch nie wieder was. So.
Mit dem Gedanken bin ich da hingegangen. Und dann war aber was. Weil, ich habe gespürt, dass irgendwas an dem linken Bein, wo sie diese Titanschraube eingesetzt hatten, dass irgendwas komisch war. Als ob sich da irgendwas gelöst hat. Es tat auch weh, es war entzündet … Irgendwas war da nicht in Ordnung. Und dann bin ich nochmal ins Krankenhaus gegangen mit meinem Vater, und dann haben die mir … ja, und dann haben sie das untersucht und der Arzt hat gesagt, er möchte ganz gerne, dass mein Vater bei dem Gespräch dabei ist.
Ich habe schon gedacht:
„Aha, da ist wieder irgendwas im Busch. Also irgendwas stimmt da nicht.“
Habe aber, weil der so ein Gerät hatte, gesehen, dass sich die Schraube gelöst hatte. Wusste aber auch nicht, was das jetzt genau heißt für mich. Und dann sind wir ins Zimmer. Mit der Krankenschwester, dem Arzt und mein Vater dabei. Und der Arzt hat dann gesagt, er habe nicht so eine gute Nachricht. Die Entzündung sei ganz schön weit nach oben gegangen und man müsse schnell reagieren. Und dann hat der Arzt auch gesagt, ich soll nicht jetzt sofort entscheiden. Aber ich soll in der nächsten Woche schon entscheiden.
Und dann habe ich gesagt:
„Das ist ja lustig, dass ich das jetzt so schnell entscheiden soll. Das ist eine Entscheidung, bei der jetzt einfach ein Bein … bei der das zweite Bein abgenommen wird.“
Dann bin ich aus dem Krankenhaus wieder nach Hause oder ins Internat und habe mit meinem Vater gesprochen.
Dann habe ich mit dem Sanitätshaus gesprochen, mit dem Mann, der die Prothesen da macht. Der kannte mich auch schon ganz lange, und ich habe ihm gesagt, wie grade die aktuelle Situation aussieht und dass ich das grade echt nicht machen lassen möchte.
Und dann hat er gesagt:
„Hülya, bevor die Entzündung noch weiter nach oben geht, Du also noch mehr Bein verlierst …“,
also, dann könne ich gar keine Prothesen mehr tragen.
„Es ist schon wichtig, da jetzt eine Entscheidung zu treffen.“
Das, was der Arzt ja auch gesagt hat. Und deshalb war das dann okay.
Eine Woche später habe ich dann da angerufen und habe gesagt:
„Ok, ich lasse mich nochmal operieren.“

Sprechen wir doch mal über Behinderung, Handicap, Beeinträchtigung oder eingeschränkte Mobilität: Wie gehst du mit diesen Begriffen um? Wie sensibel müssen deiner Meinung nach nicht- betroffene Menschen damit umgehen?

Hülya: Ich glaube schon, dass wir die Sache ein bisschen komplizierter machen mit:
„Dürfen wir das jetzt oder dürfen wir das nicht?“
Und ich glaube schon, dass die Menschen etwas verunsichert sind. Weil sie nicht wissen:
Wie kann ich diesem Menschen jetzt gegenübertreten? Wie ist der? Fühlt der sich gleich beleidigt? Oder ist der gleich traurig?
Ja, tatsächlich gibt es sehr viele Begriffe mittlerweile:
Das darf man nicht mehr sagen, das sollte man sagen, das ist erlaubt und das ist nicht erlaubt. Ich persönlich störe mich gar nicht an diesen Worten, weil es für mich einfach nur Worte sind. ich glaube, wenn wir jetzt auch noch darauf achten müssen, was wir dem anderen Menschen sagen sollen, können, dürfen oder so – dann ist da so eine gewisse Trennung. Weil ich dann als Person vielleicht dir gegenüber unsicher bin, weil ich nicht weiß:
Darf ich das Wort Behinderung eigentlich sagen? Ich persönlich, ich habe gar kein Problem damit, wenn jemand sagt:
„Deine Behinderung“ oder so.

Ich denke, wenn wir aufhören würden uns ständig Gedanken darüber zu machen, welche Worte richtig sind, und stattdessen vielleicht mehr Rampen bauen oder mehr Aufzüge bauen, dann wären wir viel weiter.

Hülya Marquardt


ich glaube, ich kann es für jemanden, der keine Behinderung hat, viel einfacher machen, wenn ich sage:
„Du darfst das Wort ruhig benutzen. Also, ich bin da jetzt nicht sauer deswegen.“

Dysmelie ist ja eine Erbkrankheit. Gibt es Fälle mit ähnlichem Verlauf wie deinem bei Euch in der Familie?

Hülya: Also, mein Vater wurde mit acht Jahren amputiert. Der hatte das auch an den Beinen, aber an den Händen hatte er nichts. Ich bin die Einzige, die beides bekommen hat in der Familie. Es gab mal wohl davor auch welche, aber es gab noch keinen Fall, wo jemand an den Händen und an den Beinen betroffen war.

Hattest du selbst Bedenken oder Angst, als du erfahren hast, dass du schwanger bist, dass dein Kind auch betroffen sein könnte?

Hülya: Der Gedanke war natürlich auch da. Dass es auch sein könnte, dass mein Kind das auch bekommt. Und das hat mich trotzdem nicht davon abgehalten Mama zu werden. Weil für mich war es klar .Egal was ich für ein Kind bekomme – ich will es behalten. Weil es ist ein Geschenk und ich will es annehmen. Unser Kind hat auch nichts.

Wie war denn die Schwangerschaft?

Hülya: Ich hatte eine ganz tolle Schwangerschaft.

Wie schön. Und wie ist es jetzt Mutter zu sein?

Hülya: Also ich bin ja jetzt in Elternzeit und habe mir dann auch gesagt: Ich nehme jetzt die zwei Jahre für mein Kind. Natürlich weißt Du dann vorher nicht, was Dich erwartet, wenn Du dann Mama bist. Aber mein Alltag ist wirklich sehr gefüllt. Das heißt, ich stehe morgens auf und bin von morgens bis abends nur mit meinem Sohn beschäftigt. Und er ist dann jetzt grade in so einer Phase, wo er halt wirklich viel krabbelt und auch wirklich ganz viel ausräumt. Und ich bin dann halt die ganze Zeit bei ihm. Und dann ist es so, irgendwann mal abends, dass ich ihn ins Bett lege und mir dann mal so zwei, drei Stunden für mich Zeit nehme.

Du hast jetzt eine Familie mit einem kleinen Kind – also immer jede Menge zu tun. Bist Du im Alltag auch auf Hilfe von anderen angewiesen?

Hülya: Klar, mein Mann, der Dennis, ist jetzt auch da. Einfach dadurch, dass er ja Lehrer ist und auch viel von zu Hause aus macht. Und dann bekommt er auch sehr viel mit von unserm Sohn Rangi. Dennis ist also auch dabei und, klar, hilft auch. Aber wir haben auch das Glück, dass ich wundervolle Schwiegereltern habe, die natürlich dann auch da sind, wenn ich jemanden brauche.

Du und Dennis: Wie habt ihr Euch gefunden?

Hülya: Ich war damals bei Facebook aktiv und habe dann gesehen, dass da mal so eine Nachricht von Dennis kam. Ich habe sie ignoriert.
Und irgendwann hat er mir – weiß gar nicht mehr – glaube zum Geburtstag was Nettes geschrieben. Und dann habe ich irgendwann einmal gedacht:
„Ja, Mensch, da war doch mal eine Nachricht, der ist ganz nett. Da schreibe ich einfach mal zurück“.
Ich habe aber auch gleich geschrieben:
„Aber ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung.“
Und dann hat er geantwortet:
„Ich weiß gar nicht, warum du das schreibst, weil ich bin auch nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Dann ist das doch alles ganz klar. Wir können doch einfach nur schreiben.“
Und dann habe ich gedacht: Ja, ok, dann ist ja alles gut. Bis er dann gesagt hat:
„Sollen wir uns nicht mal treffen?“
Da habe ich gedacht: Ja gut. Eigentlich spricht da nichts gegen, wir wollen ja beide keine Beziehung. Also wir können ja beide einfach ganz normal so Freunde bleiben, warum auch nicht? Und er wohnte ja eh in Baden-Württemberg. Da habe ich gesagt:
„Das wird ja so oder so niemals gehen.“
Und dann haben wir uns getroffen. Und dann haben wir uns verliebt.
Und irgendwann hat er so gemeint:
„Du, was meinst Du, sollen wir nicht mal zusammenziehen?“
Und da habe ich gesagt:
„Ja, würdest Du nach Hagen ziehen?“
Und er hat gesagt: „Ne, das mach ich nicht. In dem schönen Schwabenländle“,
hat er gesagt: „das ist so schön, da zieh ich doch nicht nach Hagen!“
Ok, Hagen ist jetzt auch nicht grade schön, das stimmt schon.
Und dann habe ich gesagt:
„Aber ich kann doch nicht schon wieder umziehen!“
Das wollte ich jetzt nicht. Jetzt Freunde dalassen, Familie dalassen, den sicheren Job, den ich aufgeben müsste, das wäre total verrückt. Und wie war es?
Ja, dann habe ich mich doch für ihn entschieden.

Und wie hat deine Familie reagiert, als sie erfahren hat, dass du einen Bio-Deutschen heiraten wirst?

Hülya: Ich habe irgendwie gespürt, als ich einen deutschen Freund hatte, hieß es:
„Naja, sie sollte ja schon irgendwie froh sein, dass sie überhaupt einen bekommt.“
So irgendwie, ja.
Ich habe selber aus meiner eigenen Familie mitbekommen, dass eine Tante gesagt hat:
„Also die Hülya wird niemals heiraten können. Und wahrscheinlich auch niemals Kinder kriegen.“
Das war schon …, also, da gab es auch welche, die diese Meinung hatten.
Es gab aber auch welche, die das anders gesehen haben.
Bei Hülya, das war so:
„Hm, ja, also ein Christ oder ein Deutscher … Ok, ja. Würden wir jetzt bei anderen vielleicht nicht so akzeptieren, aber bei Hülya machen wir das. Weil wir sollten eigentlich froh sein, dass sie überhaupt jemanden abkriegt.“
Schon krass eigentlich.

Zurück zum Alltag: Auf deinen Instagram-Bildern bist du mit Prothesen, Rollstuhl, Skateboard oder „ohne alles“ zu sehen. Wie bewegst du dich im Alltag?

Hülya: Ich habe auch einen Führerschein, und da kann ich mit Prothesen Auto fahren oder auch ohne Prothesen. Das kommt halt drauf an. Mache ich beides mal.

Erlebst du Diskriminierung im Alltag oder im Arbeitsleben? Wie gehst du mit sowas um?

Hülya: Also bei mir ist das mit der Diskriminierung immer so eine Sache.
Jemand anderes würde das vielleicht eher als diskriminierend empfinden, was wir erfahren, als jetzt vielleicht ich.
Wenn ich jetzt rausgehe und jemand würde mich zum Beispiel anstarren, sage ich jetzt mal, dann nehme ich das nicht wahr.
Das nimmt jemand anderes wahr, der mit mir dabei ist, und würde es als Diskriminierung empfinden. Aber ich sehe das gar nicht so. Manche sagen auch:
„Sag mal, siehst Du das eigentlich nicht?“ – „Ne, irgendwie nicht.“
Also ich würde jetzt für den Alltag sagen, wenn ich mit dem Rollstuhl unterwegs bin – da fällt mir jetzt grade was ein – dass ich natürlich schon immer wieder feststelle, dass es keine Toiletten gibt, auf die ich draufkann. Dass es im Bahnhof leider immer noch keinen Aufzug hat, mit dem ich als selbstständige Rollstuhlfahrerin fahren kann.
Das ist schon irgendwo auch Diskriminierung. Da muss auch unbedingt was getan werden.
Aber ich sehe das als für alle. Also, das ist jetzt nicht nur für mich, sondern ich sehe das für alle andern auch, die sich in dieser Situation befinden.
Aber ansonsten fühle ich mich jetzt von der Gesellschaft oder von meinen Nachbarn, oder was weiß ich was, jetzt nicht diskriminiert. Empfinde ich nicht so.

Du bist ja auch auf Instagram sehr aktiv. Du hast über 25.000 Follower auf der ganzen Welt. Auch die internationale Presse ist auf dich aufmerksam geworden. Hast du damit gerechnet?

Hülya: Mit Instagram war das so: Dennis und ich waren in Spanien im Urlaub, und dann hat er zu mir – er ist ja immer mit seiner Kamera unterwegs. Er liebt es zu fotografieren.
Und dann hat er Bilder von mir gemacht. Und irgendwann meinte er dann:
„Sag mal, Hülya, sollen wir nicht mal irgendwas in Social Media machen? Weil ich finde, Du könntest den Leuten so viel geben mit deiner Art.“
Und ich so: „Was?“ und „Was sollen wir denn da machen?“
Und dann hat er gemeint: „Einfach Bilder.“
Und dann habe ich gedacht: Gut, können wir ja machen. Ich fand die Idee eigentlich gar nicht schlecht. Ich mach es einfach. Wie so oft in meinem Leben, ich riskiere irgendwas. Wie zum Beispiel den Umzug hierher oder so. Ich mach es einfach. Daraus entstehen dann oft tolle Geschichten. So war es bei Instagram auch. Das ist so schön, weil uns das so vereint. Das ist wie, so …, so ein Verbunden-Sein mit allen möglichen Menschen aus aller Welt. Also das ist jetzt nicht nur Deutschland. Sondern mir schicken Leute Bilder von sich zum Beispiel: „Darf ich das Bild, das Du gepostet hast, auch nachstellen? Ich lebe in Kambodscha“ oder was weiß ich was wo. Und das ist so schön! Wir haben gesagt, wir nutzen das für etwas Positives. Wir könnten es auch für etwas anderes benutzen. Aber für uns ist es wichtig, etwas Positives daraus zu machen.
Wir möchten einfach ein anderes Bild zeigen. Also wir möchten einfach ein Bild von Menschen mit Behinderung zeigen, die vielleicht so … Wo die Leute das vielleicht nicht so sehen.
Es ist ja auch so, dass viele Leute denken: Ich muss so aussehen, oder ich muss so aussehen, dies und jenes.
Und wir hauen es einfach raus, die Bilder. Und denken uns: Also entweder mag man die oder nicht. Aber ich glaube, indem wir das mehr, so oft wie möglich zeigen, dass sich das dann irgendwann normalisiert.
Das Schöne in dem andern zu erkennen. Auch wenn jemand irgendwie, weiß ich nicht, im Rollstuhl sitzt oder was auch immer. Wie auch immer das Schöne in dem andern zu erkennen. Es gibt nichts, was nicht möglich ist.
Wir müssen es halt einfach nur wollen und es miteinander umsetzen, so. Das habe ich oft gemacht in meinem Leben. Auch wenn Leute nicht dran geglaubt haben oder so, das war mir auch echt egal. Ich hab es einfach gemacht. Und mittlerweile kann ich sagen:
Das war genau richtig, so wie ich mich entschieden habe.

Lass uns noch ein paar Worte zum Ehrenamt verlieren. Was kann Ehrenamt?

Hülya: Es wäre schön, wenn sich die Leute mehr engagieren und sich einbringen. Weil das sehr wichtig ist.Ehrenamt ist so wichtig. So wichtig!
Wenn wir diese Menschen nicht hätten, die ehrenamtlich was machen, wirklich. Ich finde das auch super, wenn Menschen mit Behinderung sich mehr integrieren und sich einfach ganz normal in der Gesellschaft mit einbringen. Auch ehrenamtlich einbringen.Viele Menschen kennenlernen, verschiedene Menschen kennenlernen. Das erweitert ja auch nochmal meinen Horizont. Also wenn ich möchte, dass irgendwas in meinem Leben sich verändert und die schwierige Situation, in der ich gerade bin, glaube ich, brauchen wir diese Begegnungen. Ich glaube auch: wenn diese Begegnungen stattfinden, dann denkst du:
„Wow, ich bin nicht ganz alleine mit dem Problem.“
Weißt du, wie ich mein?
Nur indem wir uns mitteilen, glaube ich, dass sich da unglaublich viel verändern kann. Deshalb bringt es auch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und zu jammern, wie schlimm alles ist. Klar gibt es schlimme Sachen. Das will ich gar nicht irgendwie bewerten, dass es das nicht gibt oder sonst was. Aber ich glaube, dass das wirklich mein Teil ist um dazu beizutragen, dass sich was verändert in meinem Leben. Einfach anderen Menschen zu begegnen und zu reden und mich zu öffnen.

Und was würdest du dir für die Lebenden Tagebücher wünschen?

Hülya: Ich denke, dass es erstmal darum geht, dass diese Menschen sich einfach mal öffnen und einfach die Geschichte mal teilen. Mit uns. Und einfach mal von sich aus erzählen: Was habe ich erlebt. Das ist ja das Schöne an diesen Lebenden Tagebüchern. Das ist lebendig. Das muss einfach leben und das kann man nicht einfach aufschreiben und irgendwo in die Ecke legen. Weil sonst kriegt es ja keiner mit.

Also raus damit! Raus mit den Geschichten!

Hülya Marquardt

Hülya Marquardt Weissach im Tal

Hülya Marquardt aus Weissach im Tal ist an der Erbkrankheit Dysmelie erkrankt. Sie ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Mit ihrer offenen und herzlichen Art macht sie den Menschen Mut, ihren Weg zu gehen und ihre Träume zu verwirklichen. Wir freuen uns, dass sie die Schirmherrin des Projekts „Lebende Tagebücher“ geworden ist!