„All dies hat mich geprägt und zu dem gemacht, was ich heute bin.“

Ich wurde am 08.05.1983 in Hagen, NRW, geboren. Meine Geburt war zunächst kein freudiges Ereignis für meine Familie, denn ich kam fehlgebildet zur Welt. Ich habe Dysmelie, und das bedeutet, dass meine Hände und Beine nicht so aussehen und funktionieren wie bei anderen Menschen. Meine erste Operation hatte ich mit gerade einmal zwei Monaten. Es sollte nicht die letzte gewesen sein. Insgesamt wurde ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr 21 Mal operiert. Es wurden mir unter anderem Titan-Schrauben eingesetzt, um meine fehlgebildeten Beine stabiler zu machen und mir dadurch das Gehen zu ermöglichen.

Ich hatte jedoch auch schöne Kindheitserinnerung, wie z.B. die Reisen mit meinen beiden jüngeren Schwestern Mehtap und Sema in die Türkei. Der Abschied am Ende eines solchen Urlaubs fiel jedes Jahr schwerer. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich nicht zurück nach Deutschland. Meine Schwester Mehtap und ich weigerten uns, nach Hause zu fahren, blieben dort und kamen auf ein privates, religiöses Mädcheninternat in Ankara.

Die 10. Klasse habe ich dann wieder in Deutschland besucht. Meine Eltern, die eine unglückliche Ehe führten, trennten sich, und ich beschloss, zu meinem Vater zu ziehen. Da dieser jedoch viel arbeitete und ich daher oft alleine war, hat es mich auch dort nicht lange gehalten, und ich entschied, mein Glück auf einem Internat zu suchen. Rückblickend war das eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Das Internat des Berufsbildungswerks Volmarstein im nordrhein-westfälischen Ennepe-Ruhr-Kreis sollte mir den Weg in eine neue Welt öffnen und mich über den Tellerrand einer türkisch geprägten „Gastarbeiterkindheit“ blicken lassen. Ich lebte neun Jahre dort, es war eine unglaublich prägende und schöne Zeit. Ich machte viel Sport, entdeckte meine Leidenschaft für die Bühne, spielte in Theaterstücken und Musicals mit und erlebte eine Gemeinschaft von internationalen Menschen, die mich förderten und ohne Vorurteile agierten: ein echtes Miteinander.

Als ich 18 Jahre alt war, löste sich eine Titan-Schraube in meinem Bein und verursachte eine Entzündung in meinem Körper, welche letztendlich zur Amputation beider Beine am Oberschenkel führte. Während meines Aufenthalts in der Reha habe ich gelernt, nun als Frau ohne Beine meinen Alltag zu meistern und mich auf Händen, im Rollstuhl und auf Prothesen fortzubewegen. 

Dann schloss ich meine Schule erfolgreich ab und begann eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation. Nach meinem Abschluss arbeitete ich als Verwaltungsangestellte im Seniorenheim Dietrich-Bonhoeffer-Haus für neun Jahre, lebte selbstständig in meiner eigenen Wohnung, machte meinen Führerschein und führte generell ein emanzipiertes, selbstbestimmtes Leben.

Im Jahre 2014 lernte ich meinen heutigen Ehemann Dennis kennen. Ein Jahr später ließ ich wiederum alles zurück, zog zu ihm nach Baden-Württemberg und nahm eine Stelle als Seminar-Managerin bei der Handwerkskammer-Region Stuttgart an.

2018 haben Dennis und ich geheiratet, und eine Woche nach unserer Hochzeit haben meine Schwiegermutter und ich uns einen Traum erfüllt und eine Modeboutique eröffnet. Mein größter Traum ging jedoch am 11. Mai 2020 mit der Geburt unseres Sohnes in Erfüllung.

Die Herausforderungen in meinem Leben waren nicht immer einfach. Zweifel hatte ich viele, aufgeben war jedoch nie eine Option für mich. All dies hat mich geprägt und zu dem gemacht, was ich heute bin: eine glückliche Frau, die sich ihrer selbst bewusst ist.

Hülya Marquardt Weissach im Tal

Hülya Marquardt aus Weissach im Tal ist an der Erbkrankheit Dysmelie erkrankt. Sie ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Mit ihrer offenen und herzlichen Art macht sie den Menschen Mut, ihren Weg zu gehen und ihre Träume zu verwirklichen. Wir freuen uns, dass sie die Schirmherrin des Projekts „Lebende Tagebücher“ geworden ist!