Interview mit Siba Naddaf in der Textversion

Warum bist du aus Syrien geflüchtet?

Siba: 2011 hat der Krieg in Syrien angefangen. Danach war alles anders. Ich habe meine Apotheke verloren. Ich konnte nicht einmal zur Uni gehen, um meine Prüfungen in dem Zweitstudium abzulegen. Ich konnte nicht mehr Physiotherapie machen. Alle blieben einfach zu Hause. Es war sehr gefährlich unterwegs: Straßen waren gesperrt, es wurde bombardiert … es war einfach … alles aus. Und wir sind einfach geflüchtet. Als ich nach Deutschland gekommen bin, war ich 29 Jahre alt, ungefähr. Und mein Leben in Syrien war … nicht so einfach. Auf der einen Ebene, weil ich einfach eine Muskelkrankheit habe und die Infrastruktur in Syrien dafür nicht geeignet ist. Sie ist nicht darauf ausgerichtet, dass man die Möglichkeit hat mobil zu sein, wenn man schlecht laufen kann. Auf der anderen Seite war es für mich auch nicht so ganz einfach in Syrien zu leben, weil meine Mentalität sich enorm von der Mentalität in der syrischen Gesellschaft unterscheidet.

Diese Muskelkrankheit, was ist das?

Siba: Ich habe Muskeldystrophie. Eine ganz seltene Muskeldystrophie. Und meine Eltern hatten davon noch nie gehört, als das alles bei mir angefangen hat. Die Krankheit schreitet immer weiter fort. Bei der Pubertät dann ist es ganz deutlich, dass man von der Muskelkraft her nicht normal ist. Nicht wie alle anderen Menschen. Es dauert bei mir fast alles länger als bei anderen Menschen. Der Tag vergeht halt schneller bei mir. Weil ich viel Zeit brauche.

Ok, dann wieder zurück – wie war nach der Flucht deine Ankunft in Deutschland?

Siba: Ich bin 2014 mit meinem Vater nach Deutschland gekommen. Als ich im Saarland angekommen bin, musste ich erstmal feststellen, dass ich in der Erstaufnahme keine Möglichkeit habe eine Toilette für Menschen mit Behinderung zu bekommen. Dass ich die Toilette mit anderen Menschen teilen muss und dass die Toilette auch ziemlich weit weg vom Zimmer ist. Als ich das alles so auf einmal erfahren habe, da habe ich einfach geweint. Auf einmal war ich alleine mit meinem Vater unter Bedingungen, die für einen Menschen mit Behinderung nicht menschlich sind. Und ab dem Moment habe ich festgestellt, dass mein Leben in Deutschland auch nicht einfach sein wird. Dass ich ständig dafür kämpfen soll, dass auf meine Behinderung Rücksicht genommen wird. Dass es einfach beachtet wird, dass ich eine Rollstuhlfahrerin bin. Dass ich eine große Einschränkung habe, die nicht so ignoriert werden darf.

Ist Deutschland nun deine Heimat?

Siba: In Syrien habe ich mich nicht zu Hause gefühlt und würde ich mich auf jeden Fall nicht zu Hause fühlen. Ich habe hier das Gefühl: Ich bin einfach ein Mensch. Mit vollen Rechten und Freiheiten. Ich kann meine Gedanken und Werte ausleben. Ich bin frei.
Die Gesellschaft ist in Syrien so gespalten, dass jeder Mensch, der anders ist, mehr oder weniger ausgeschlossen wird. Oder überhaupt: nicht mehr als ein Mensch gesehen wird. Und das war schließlich sehr, sehr belastend für mich.

Auch wenn du es nicht als Heimat bezeichnen würdest waren dort doch Menschen, die dir wichtig waren – oder noch sind. Habt ihr noch Kontakt?

Siba: Meine Freunde sind leider immer noch in Syrien und keine Woche vergeht, ohne dass wir uns schreiben. Das sind meine besten Freundinnen.

Wenn wir bei Dingen sind, die dir wichtig sind: Du hast Pharmazie studiert, vorher von einem Zweitstudium geredet … Was bedeutet Wissenschaft für dich?

Siba: Ich war an der Uni – ich sage mal: keine schlechte Studentin. Also meine Noten waren gut. Ich habe großes Interesse an der Forschung. Ich bin sehr wissenschaftlich orientiert. Auch in meinem Alltag, in meinem Leben. Also: Meine Gedanken sind von der Wissenschaft sehr geprägt.
Deshalb wollte ich unbedingt promovieren. Und weil meine Eltern das einfach nicht finanziell fördern konnten – das ist ja sehr, sehr kostenaufwendig – dann … ja: habe ich aufgegeben. Also diese Chance, diese Möglichkeit gab es nicht mehr.

Und dein Mann? Den dürfen wir in dieser Reihe nicht vergessen.

Siba: Wir haben uns schon gekannt, als ich noch in Syrien war. Es war uns aber nicht möglich zusammen zu leben. Erstens weil es Krieg gab und wir aus verschiedenen Städten kommen. Und zweitens – und ich würde sagen, der zweite Grund war wichtiger – ohne Ehe lebt man in Syrien nicht zusammen. Und wir wollten zusammenleben, bevor wir heiraten. Das geht in Syrien leider nicht.
Wir sind auch gegen das … ich sage mal „religiöse soziale System“ in Syrien, das alles beeinflusst. Das heißt: Wenn man heiratet, kann man dort nicht ausschließlich standesamtlich heiraten. Es muss immer eine religiöse Ehe sein. Und von der Mentalität her sind wir eigentlich dagegen.
2015 ist mein Mann nach Deutschland geflüchtet. Erst dann konnten wir uns wieder sehen und hatten die Hoffnung, dass wir endlich einmal unsere Werte ausleben können.
In meinem Leben ist die wichtigste Person mein Mann. Keiner unterstützt mich wie mein Mann.
Bevor ich meinen Mann kennengelernt habe dachte ich mir, ich würde nie jemanden treffen, der mich trotz meiner Muskelerkrankung lieben kann.

Dann seid ihr jetzt also beide in Deutschland. Du sprichst ja wahnsinnig gut Deutsch, ist das „nur“ Talent oder auch eine Leidenschaft für Sprachen?

Siba: Das Deutschlernen hat etwa eineinhalb Jahre gedauert, ungefähr. Ich hatte damals vor, ein Studium in Deutschland aufzunehmen. Dementsprechend habe ich die Prüfung, die dafür notwendig ist, abgelegt und mit voller Punktzahl bestanden. Ich wollte unbedingt etwas mit Sprachen lernen, und habe dafür auch BAföG bekommen. Im letzten Moment habe ich mich aber dagegen entschieden. Okay, ich mag Sprachen sehr. Ich wäre lieber eine Sprachwissenschaftlerin. Aber – ich habe Pharmazie studiert. Und ja, das bedeutet für mich auch Apothekerin zu sein.
Also habe ich mich entschieden, mein Diplom anerkennen zu lassen. Und das war ein echt langer Weg.

Siba, eine Frage, die du wahrscheinlich schon oft gestellt bekommen hast: Was treibt dich an?

Siba: Viele Menschen sagen mir ich sei kämpferisch. Aber … das stimmt nicht ganz. Also ich kämpfe, ja. Aber nicht, weil ich es will. Sondern, weil ich es anders nicht kann. Es ist einfach im Blut, ich habe keine andere Möglichkeit. Wenn ich nicht weiterkämpfe – was soll ich dann machen?

Zum Ende dann noch einmal träumen. Was würdest du dir für dich noch wünschen?

Siba: Jetzt mit meinem Atmungsproblem ist es nicht so einfach. Und wenn ich nicht die Möglichkeit habe zu reisen, möchte ich wenigsten die Sprachen von den Ländern lernen. Mein Traum ist es entweder Japanisch oder Koreanisch zu lernen, und irgendwann dann nach Korea oder nach Japan zu fahren.