Liebe Naime, erst einmal freue ich mich, dass wir uns hier zu diesem Interview treffen können und du deine Erfahrungen mit uns teilen möchtest. Fangen wir doch mit dir an: Wer bist du?
Naime: Ja, also ich bin die Naime und bin 39 Jahre alt. Ich bin hier geboren, bin hier aufgewachsen, jetzt bin ich Hausfrau. Aber nebenbei unterstütze ich auch Familien ehrenamtlich. Ich mache das auch wirklich sehr, sehr gerne. Das macht mir so Spaß!
Du hast eine 13-jährige Tochter, die Epilepsie und Autismus hat. Wann wurde das festgestellt? Und wie hast du darauf reagiert?
Naime: Also bei Zahide war ich gerade mal 23 Jahre alt, als ich schwanger war, und, ja, kurz vor 24 kam sie dann auf die Welt. Das war alles komplikationsfrei: Meine Schwangerschaft, die Geburt, das war alles einwandfrei, das ging alles sehr gut.
Ja, und dann kam sie, überraschend eigentlich, als Mädchen auf die Welt. Das war sehr schön, also es war ein ganz tolles Gefühl für mich. Und die Zahide war ein sehr ruhiges Baby. Also sie war eher so … müde. Sie hat immer gut geschlafen – das hat mir, klar, am Anfang auch sehr gutgetan. Ich konnte mich gut ausruhen. Aber dann haben wir halt gemerkt, nach Monaten, da stimmt etwas nicht. Sie war auch nicht so wie der Bruder. Ich habe nämlich auch einen Sohn, der ist zwei Jahre älter. Die Babys, die fangen ja immer schon ein bisschen an mit den Händen oder sie lachen – aber Zahide hat das alles nicht gemacht. Ja, wir haben dann halt verschiedene Therapien besucht. Aber das Ganze ging auch erst, als wir den Arzt gewechselt haben.
Der erste Kinderarzt, bei dem wir waren, der hat immer gesagt:
„Ja, sie braucht einfach noch Zeit, sie braucht noch Zeit, braucht noch Zeit …“
Und dann, wo wir den Arzt gewechselt haben, hat der dann gemeint:
„Ne, da stimmt etwas nicht, da muss auf jeden Fall was gemacht werden!“
Dann, mit 18 Monaten, kam unser erster Krampfanfall. Da waren wir dann wirklich überrascht. Also wir haben das überhaupt nicht erwartet. Wir wussten auch nicht: Was ist jetzt mit ihr los? Sie hat wirklich … also sie hatte nur noch so einen starren Blick, sie ist dann so langsam ganz blau angelaufen – und plötzlich war sie dann weg. Dann wurden wir eine Woche lang stationär aufgenommen. Das war, klar, das Beste. Weil da kamen sie mir dann mit … sofort mit Sachen wie:
Also wir müssen EEG machen, „EKG machen“, „Kernspintomographie“ Was ist das alles? Ich war gerade mal 24 Jahre alt. Ich war auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet, ich wusste gar nicht …
also diese ganzen Fachbegriffe waren mir so fremd.
Ich wusste gar nicht, was ich damit anfangen soll.
Das Einzige, was ich dort gemacht habe, war: Ich habe wirklich nur geweint. Und ich habe wirklich nur gehofft es … es ist nichts. Aber dann haben sie halt festgestellt, dass die Zahide Epilepsie hat. Eine Zeit lang war sie dann wieder ruhig, hat nicht weitergekrampft, aber dann wurde es so stark, dass wir wirklich jedes Wochenende im Krankenhaus waren.
Aber mir war es auch wichtig, dass die Zahide sich weiterentwickelt. Und das kam nicht. Und wir hatten immer den Verdacht, dass die Zahide eventuell Autismus hat. Hätte ich das von Anfang an gewusst, dass die Zahide Autistin ist, dann wäre das für mich viel, viel leichter gewesen.
Und wie bist du dann damit umgegangen?
Naime: Ich habe dann, nachdem ich erfahren habe, dass die Zahide Autismus hat, an verschiedenen Kursen für Eltern teilgenommen.
Ständig, also ich habe mir überall Informationen geholt: Ich habe mit den Ärzten gesprochen, auch mit den Schulen, wie dann alles weitergehen könnte, was sie zum Beispiel lernen muss, was sie machen kann …
Dann war es einfach leichter für mich. Weil bei Autisten, da gibt es kein Medikament. Da ist auch kein Heilmittel da, bei dem man dann sagen kann:
„Ha ja, gut, jetzt nimmst du das ein.“
Bei Epilepsie hat sie ja Medikamente und mit den Medikamenten kann man das schon ein bisschen stoppen. Aber bei Autismus ist es nicht so. Autismus – das hast du ein Leben lang.
Man kann also von einer unheilbaren Krankheit sprechen. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Entwicklung gibt, oder?
Naime: Ja, sie hat sich entwickelt und das hat uns wirklich glücklich gemacht.
Obwohl ja auch viele Ärzte gesagt haben:
„Sie wird sich nicht entwickeln. Sie wird vielleicht gar nicht sprechen. Auch nicht laufen.“ Aber – du hast sie ja auch jetzt heute gesehen – sie spricht, sie kann laufen … Also sie hat sich gut entwickelt.
Wie hast du das geschafft? Kindergarten, Grundschule, was sonst selbstverständlich erscheint und die Eltern ja auch entlastet – hat das funktioniert?
Naime: Ja, also normalerweise hatte ich sie in einem regulären Kindergarten angemeldet. Da wo der Bruder auch damals war. Und dann habe ich gesagt, als sie drei war:
„Nein, ich will nicht, dass sie anfängt.“
Ich habe dann gesagt, sie soll noch ein Jahr zu Hause bei mir bleiben. Und dann gucken wir mal, wie es mit der Entwicklung weitergeht. In der Zeit waren wir auch bei der Frühförderstelle. Das, finde ich, ist etwas sehr, sehr Wichtiges. Da haben wir dann die Information bekommen mit der Rohräcker-Schule. Da ist auch ein Kindergarten für solche speziellen Kinder, also für behinderte Kinder. Das ist im Prinzip egal, ob das eine körperliche, geistige oder sprachliche Behinderung ist. Und ich habe sofort gemerkt: Das ist es! Das ist der Platz für Zahide. Und die Zahide war dann drei Jahre da im Kindergarten.
Und die Schule – da ist sie jetzt auch wieder auf der Rohräcker-Schule. Inzwischen ist sie in der Hauptstufe. Das Lernen bei Zahide ist dann so: Sie machen das dann meistens spielerisch.
Und das macht ihr Spaß?
Naime: Sie ist sehr gerne in der Schule. Sie hat dort ihre Freunde, das erzählt sie mir auch gerne. Und ich frage sie dann halt öfter mal, wenn sie zu Hause ist:
„Ja, wer war denn jetzt alles da, in der Schule?“
Weil … normalerweise, also draußen, so allgemein, also … Zahide hat keine Freunde.
Und ihre Freunde sind alle in der Schule. Und das macht ihr Spaß. Sie geht sehr gerne in die Schule.
Was macht eine solche Behinderung aus ihrer Beziehung, der Beziehung zwischen Mutter und Tochter?
Naime: Zahides und meine Beziehung ist sehr eng. Sie braucht mich ständig.
Also ich muss irgendwo in ihrer Nähe sein. Sie muss es fühlen, sie muss es sehen, dass ich bei ihr bin. Das ist ihr sehr wichtig. Sie muss ständig… also sie kommt auch ständig, versucht mich zu küssen oder zu umarmen, aber sie macht das auch nur mit mir. Also sie macht es selten mit Papa oder mit dem Bruder. Ich bin ja auch wirklich sehr eng mit Zahide, weil: wir gehen zusammen schlafen, wir stehen zusammen auf, ich dusche sie, ich mache das Essen für sie …
Also ich sitze dann auch mit ihr hier am Tisch und sage:
„Ja, jetzt musst du das machen“
„Das darfst du essen“
„Das darfst du nicht essen“ – also ich bringe ihr alles bei.
Und deshalb haben wir eigentlich einen sehr engen Kontakt. Aber was, na klar, auch schlecht ist: Wenn die Zahide zum Beispiel etwas möchte und wenn der Papa zum Beispiel „Nein“ sagt, dann kommt sie sofort zu mir.
Weil beim Papa kann sie sich nicht durchsetzen. Beim Bruder auch nicht. Aber bei mir – meistens ist es dann so: Ich gebe dann meistens immer auf und sage:
„Ja, ok. Gut, dann machen wir das halt.“
Mit mir hat sie eigentlich sehr viel Spaß. Und ich habe auch mit Zahide sehr viel Spaß.
Aber du hast ja auch einen Sohn, der zwei Jahre älter ist. Wie kommt der mit der ganzen Situation klar? Und wie ist die Beziehung zwischen euch beiden?
Naime: Mein Sohn – der musste immer leiden. Also der tat mir schon leid. Weil … er war halt immer an der zweiten Stelle jetzt. Nachdem er das erfahren hat, dass die Zahide krank war. Ihm war das, na klar, noch nicht gleich so bewusst. Aber er war … Er hat das ja gesehen. Die haben nämlich im Zimmer gespielt, und da hat sie dann zum Beispiel gekrampft. Und mein Sohn, der kam dann sofort zu mir und hat gesagt:
„Mama, Mama, ich habe nichts gemacht! Ich habe wirklich nichts gemacht!“
Und ich habe dann gesagt:
„Jetzt beruhige dich. Du weißt es, Zahide ist krank. Sie krampft jetzt und nachher kommt sie dann wieder. Dann steht sie wieder auf. Dann ist sie wieder wach.“ Bis er das Ganze begriffen hat, also bis das bei ihm okay war, das hat schon sehr lange gedauert. Und … also mein Sohn ist alleine in die Schule, auch öfters mal alleine auf den Spielplatz.
Es war … also er hatte eigentlich eine Kindheit … Wir haben zwar viel für ihn auch … Also, selbstverständlich, ich liebe beide meine Kinder, das ist etwas ganz anderes. Aber er wusste immer, dass die Zahide zuerst kommt.
Also wieder zu Zahide. Sie ist jetzt 13. Da kommt so langsam auch die Pubertät. Wie macht sich das bei ihr bemerkbar?
Naime: Sie ist eigentlich ein fröhliches Kind, ein glückliches Kind. Aber jetzt durch die Pubertät merke ich: Dann ist sie mal traurig, dann kann sie auch einfach mal nur so weinen, da weiß ich gar nicht, um was es geht. Aber das allergrößte Problem bei uns war die Periode. Das war sehr anstrengend. Die Zahide, die hat schon sehr früh ihre Periode bekommen. Das erste Jahr war eigentlich gut. Dann, durch die Medikamente, hat sie sehr oft und sehr stark die Periode bekommen.
Dann wollte sie selbstverständlich die Binde nicht mehr haben. Das war ein Problem in der Schule, das war bei mir zu Hause das Problem. Aber unser Lehrer, also die Lehrkraft, hat so mitgemacht. Also die haben wirklich nicht gesagt: „Zahide muss jetzt zu Hause bleiben, das machen wir nicht mit ihr.“
Die haben mich da so toll unterstützt!
Dann, irgendwann durchs Internet, habe ich erfahren, dass es waschbare Periodenunterwäsche gibt. Und das war eine sehr, sehr gute Hilfe für mich.
Ich will das auch deshalb sagen, weil bei vielen Familien, die auch ein behindertes Mädchen haben, dieses Problem kommen wird.
Normalerweise denke ich immer: So etwas müssten eigentlich die Krankenkassen sagen. Aber ich habe das wirklich von niemandem erfahren. Da gibt es ja diese Pflegehilfsmittel. Das sollte eigentlich auch schon irgendwie in dem Paket drin sein. Also ich finde, die Krankenkassen, die könnten eigentlich schon ein bisschen mehr Informationen geben. Vor allem für die Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund.
Welche Möglichkeiten gibt es noch, sich Hilfe und Unterstützung zu holen?
Naime: Es gibt zum Beispiel die Lebenshilfe Caritas. Die geben da wirklich gute Informationen, das sind ganz liebevolle Menschen. Jetzt bei unserer türkisch-stämmigen Familie merke ich: Die wollen das nicht unbedingt – also, da muss man einfach dabei sein.
Da muss man wirklich hingehen, fragen, auch das Kind anmelden. Die haben Nachmittagsbetreuung, auch Wochenends-Betreuung, sie spielen zusammen, sie malen zusammen – das muss man alles ausnutzen. Ich denke jetzt nämlich immer so: Wenn es der Mutter gut geht, dann ist die Mutter kräftig und dann kann sie auch für ihr Kind mehr Sachen machen. ich kann dann auch einkaufen oder auch mit Freunden etwas unternehmen. Die Zeit brauche ich für mich.
Die Sprache ist auch bei manchen Familien das Problem. Deshalb trauen sie sich das auch nicht so zu. Aber da möchte ich auch einfach sagen:
„Macht da einfach mit. Traut euch das zu. Geht da wirklich hin, zur Lebenshilfe.“ Oder das Jugendamt zum Beispiel. Da gibt es auch Hilfen. Und mit den Hilfen kann man dann verschiedene Therapien machen. Und das ist alles sehr, sehr wichtig – und da müssen sie einfach teilnehmen.
Also bitte nicht einfach zu Hause sitzen und sagen:
„Hey, alles kommt von alleine.“
Es kommt nicht von alleine.